Lauras Dilemma
Laura hatte den Tag am Strand verbracht. Keine Wolke am Himmel, das Meer herrliche 27 Grad warm. Es war ihr erster Urlaub seit einem Jahr, einem sehr anstrengenden Jahr mit vielen Herausforderungen. Die Ruhe und das Nichtstun taten ihr gut. Sie atmete tief durch, war glücklich, dass sie sich diese Zeit hier an der Algarve nun endlich gönnen konnte.
Sie bog gerade um die Ecke, um zu ihrem Auto zu gehen, das sie am strandnahen Parkplatz abgestellt hatte, als sie das Krachen hörte. Ein Wagen hatte gewendet, und da es leicht abschüssig war, war er in ein parkendes, nagelneues Auto gefahren. Laura blieb ganz in der Nähe stehen und beobachtete die Szene: der Fahrer setzte kurz zurück, stieg aus und betrachtete den Schaden. Er schrubbte ein paar Mal mit der Hand über den Kotflügel des anderen Wagens. Eine Dame, die mit im Wagen gesessen hatte, stieg ebenfalls aus. Nach einer kurzen Verständigung stiegen die beiden wieder in ihr Auto ein und fuhren weg. Laura war fassungslos. Sie ging zu ihrem eigenen Auto und notierte die Nummer des wegfahrenden Wagens sowie die Nummer des angefahrenen PKW. Um sicherzugehen, sah sie sich den Kotflügel des Fahrzeugs genauer an. Ganz klar, er war stark beschädigt. Nun war sie ratlos…
Wie würden Sie an Lauras Stelle handeln?
a) Ich würde mich nicht in die Angelegenheiten anderer einmischen, zumal ich mich nicht in Deutschland befinde.
b) Ich würde versuchen, mich an die Stelle des Fahrzeughalters zu versetzen, dessen Auto beschädigt wurde.
c) Ich würde einen Einheimischen bitten, einen Zettel auf Portugiesisch zu hinterlassen, auf dem meine Handynummer notiert ist.
d) Ich könnte zum Beispiel im angrenzenden Supermarkt die Nummer des Fahrzeugs deponieren, das den Schaden verursacht hat.
e) Ich finde, dass es richtig wäre, zur Polizei zu gehen und Anzeige zu erstatten.
f) In erster Linie hielte ich es für notwendig, die Rechte meines Körpers zu beachten, der dringend Erholung und Ruhe braucht.
g) Ich wäre nicht passiv geblieben, sondern hätte den Fahrer direkt angesprochen und aufgefordert, die Polizei zu rufen.
h) Keine der oben genannten Antworten.
Impulsfragen für die Diskussion – Teil 1
a) Erkennen des ethischen Problems
- Wie würden Sie reagieren, wenn Sie statt Laura den Vorfall beobachtet hätten?
- Besteht eine Pflicht für Laura, dem Geschädigten zu helfen?
- Falls Sie an Lauras Stelle nicht eingreifen wollen (z.B. sich bemerkbar machen und den Fahrer ansprechen, einen Zettel am beschädigten Auto hinterlassen, die Polizei informieren), was hält Sie davon ab?
- Würden Sie anders handeln, wenn Sie zusammen mit anderen auf dem Parkplatz wären?
b) Fakten sammeln
- Was sind die relevanten Informationen für diesen Fall? Welche Fakten sind bekannt?
- Unterscheiden Sie bei der Analyse situative, kulturelle und personale Faktoren. Welche Rolle spielen sie jeweils?
- Was sind die ethischen Standards, auf deren Basis Laura sich für ein Verhalten entscheiden kann?
- Wissen Sie genug, um eine begründete Entscheidung treffen zu können, wie Sie handeln sollten, wenn Sie den Vorfall beobachtet hätten?
- Welche Handlungsoptionen gibt es?
Theoretischer Hintergrund
Verantwortung ist heute ein zentraler Grundbegriff der Ethik. Ein verantwortungsvoller Mensch gilt als sein eigener „Richter“, der sich an den ethischen Standards orientiert. Es steht Laura somit als ihr eigener Richter frei, ein bestimmtes Verhalten zu zeigen bzw. nicht zu zeigen auf Basis ethischer Standards und Überlegungen. Laura muss anschließend für die Folgen ihres (Nicht-)Handelns einstehen.1
Man unterscheidet zwei verschiedene Ansätze in der Entscheidungsfindung. Sieht Laura das Ergebnis ihres Handelns als primäres Kriterium zur moralischen Bewertung an, so folgt sie der Verantwortungsethik.2 Der Handelnde trägt hierbei die Verantwortung für die als möglich oder wahrscheinlich vorauszusehenden Folgen seines Handelns.3 Die Gesinnungsethik hingegen basiert auf dem von Kant entwickelten kategorischen Imperativ, nachdem jegliches moralische Handeln auf eine Maxime, also dem handelnden Menschen innewohnende Gesinnung zurückgehen muss. Der moralisch handelnde Mensch sollte alle seine Entscheidungen an diesem guten Willen messen. Die zugrunde liegende Haltung, die Intention, ist somit viel wichtiger als das aus der Handlung resultierende Ergebnis. Überspitzt formuliert ist für den Gesinnungsethiker „der Weg das Ziel“, während die Handlung für den Verantwortungsethiker eher „Mittel zum Zweck“ ist.4
Laura empfindet das Wegfahren des Unfallverursachers ohne Hinterlassen seiner Kontaktdaten offensichtlich als ungerecht. Laura hat nun zwei Reaktionsmöglichkeiten: Rückzug oder Aktion. Da Laura nicht selbst betroffen ist, kann man bei ihr von einer sozialen Verantwortung sprechen, der Verantwortung für andere.5 Es geht in diesem Fall um Lauras Verantwortung nach dem Vorfall für Unfallverursacher und Geschädigten.
Neben der sozialen Verantwortung gibt es auch die Verantwortung für einen selbst.6 Die liegt dann vor, wenn Laura überlegt, vor Ort einzugreifen. Sie muss gegenüber sich selbst verantworten, wie weit sie geht, immer mit Blick darauf, den Schutz ihrer eigenen Person zu gewährleisten.
Ein Eingreifen Lauras und ein Belehren des Unfallverursachers im Nachhinein wären als Zurechtweisung zu verstehen. Laura würde ihren Glauben an eine gerechte Welt leben, sein Verhalten als inakzeptabel offenlegen und ihn an die Werte und Normen der Gesellschaft erinnern.7
Laura würde sich in diesem Fall im Sinne der Gesinnungsethik auf ihre Intention verlassen, welche auf ihren ethischen Handlungsgrundsätzen und humanistischen Einstellungen beruht.8 Die Intention bestimmt dabei den Wert der Tat. Warum handle ich? Aus einem Glauben an eine gerechte Welt heraus? Um Hilfe zu leisten? Um die Gesellschaft (i.e. die Rechte des Geschädigten) zu schützen? Oder warum handle ich nicht? Um mich selbst nicht zu gefährden? Oder aus dem Gedanken heraus, den Unfallverursacher nicht zu „verpetzen“? Bei diesem Gedankengang ist zu diskutieren, ob die Idee des „Verpetzens“ und ein daraus abgeleitetes Nicht-Handeln, um niemanden zu verraten, nicht eher einem „sich Drücken“ vor einem Handeln gleichkommt, und damit eine Ausrede für sich selbst darstellt.
Neben der beschriebenen Freiheit Lauras zum (Nicht-)Handeln stellt sich die Frage, ob nicht auch eine Pflicht zum Handeln besteht. Pflicht orientiert sich an den Erwartungen, die von außen an einen Menschen gestellt werden, und definiert, was der Mensch zu tun hat (Verantwortung dagegen ist die Selbstbestimmung eines Menschen, ein Verhalten zu zeigen).9 In Lauras Fall kann man einerseits von den Erwartungen des Autobesitzers sprechen sowie andererseits von der Erwartung, soziale Spielregeln zu befolgen. Soziale Spielregeln könnten dabei die Erwartung des Unfallverursachers sein, dass Laura seine Entscheidung mitträgt, oder die Ansicht der Polizei, dass sie bei solch einem Blechschaden nicht involviert werden müsse, da dies die Versicherung regle. Solche Erwartungshaltungen an die Pflichterfüllung hat Bierhoff in seiner „Skala der sozialen Verantwortung“ definiert und damit eine deutsche Version der ersten und bekanntesten Skala zur Messung von Verantwortung („Social Responsibility Scale“ von Berkowitz und Daniels (1964)) entwickelt.10
Um die Pflichten in einem Urlaubsland zu kennen, ist es hilfreich, sich der kulturellen, aber auch rechtlichen Unterschiede bewusst zu sein. Damit Laura Verantwortung übernehmen kann, ist es wichtig, dass sie das Wissen hat, was sie wie selbst tun kann. Diese bewusste eigene Handlungskompetenz erhöht i.d.R. den Willen zur Verantwortungsübernahme.11
Für Laura ist es demzufolge gut zu wissen, wie ein Schadensfall von Unfall bis hin zur evtl. Polizeiaussage und Versicherungseinbezug in Portugal abläuft. Liegen Laura hierin keine Kenntnisse und Erfahrungswerte vor, wird sie ihre Handlungskompetenz als geringer einschätzen und die Situation als größeres Dilemma empfinden als mit entsprechenden Kenntnissen. Um aus dieser Dilemmasituation herauszukommen, ist es sinnvoll, dass Laura sich kurzfristig die entsprechenden Kenntnisse aneignet. Eine Lösung könnte sein, Personen vor Ort um Hilfe zu bitten und zu befragen, wie man in dieser Situation in Portugal handelt.
Der ADAC empfiehlt, dass bei Personen- und erheblichen Sachschäden in jedem Fall die Polizei zu rufen ist.12 Unter erheblichen Sachschäden versteht man in Portugal jedoch erst Sachschäden ab 1 Million Euro und Personenschäden ab 5 Millionen Euro.13 Werden diese Mindestdeckungssummen nicht überschritten, ist der Beklagte im Verfahren nur das Versicherungsunternehmen. Zivil-rechtliche Verfahren gegen den Unfallverursacher sind unterhalb dieser Summen nicht üblich. Man kann also nicht wegen eines Blechschadens von z. B. 20.000€ den Fahrzeugführer verklagen.
Fazit
Ein Mensch handelt verantwortungsvoll, wenn er für seine Taten gegenüber anderen Menschen ethische Standards berücksichtigt, wenn er die kurz- und langfristigen Folgen seines Handelns bzw. Nicht-Handelns absehen kann und wenn er vor sich auf Basis dieser ethischen Standards rechtfertigen kann, warum er diese oder jene Entscheidung trifft oder nicht trifft.14
Grundsätzlich ist zu klären, wer wem gegenüber wofür Verantwortung trägt. Man nennt das auch die dreistellige Relation der Verantwortung.15 Dabei ist Verantwortung kein objektiver Begriff. Es geht vielmehr darum zu klären, wofür jeder Einzelne Verantwortung übernehmen kann und will. Das muss jeder Mensch für sich selbst klären.
Für Laura bedeutet das, für sich klarzustellen, ob sie auf dem Parkplatz im Nachhinein Verantwortung übernehmen will im Sinne der Sozialen Verantwortung, also der Verantwortung für andere. Da sie ratlos ist und mit ihrer Handlungskompetenz an dieser Stelle nicht weiterkommt, sollte sie Hilfe suchen, indem sie z.B. andere Personen vor Ort auf die Situation hin anspricht. Da der Unfallverursacher nicht mehr anwesend ist, können als mögliche Folgen ihres Handelns die Reaktionen des Autobesitzers, der Versicherungsgesellschaft oder auch der Polizei angesehen werden. Die Folgen eines unterlassenen Handelns können Reue-, Scham- und Schuldgefühle sein, mit denen Laura sich eine Weile auseinandersetzen und sich selbst gegenüber rechtfertigen muss. Es ist am Ende ein Abwägen zwischen dem Schutz von Lauras eigenen Rechten und denen der Gesellschaft.
Impulsfragen für die Diskussion – Teil 2
a) Überprüfung der Fakten
- Hat sich Ihre Meinung zu dem Fall durch das zusätzliche theoretische Wissen geändert? Wenn ja, inwiefern?
- Würden Sie Ihre zuvor genannten Handlungsoptionen neu definieren?
b) Handlungsoptionen beurteilen
- Wie würden Sie die möglichen Handlungsoptionen basierend auf Ihren spontanen Reaktionen zu Beginn kombiniert mit dem theoretischen Hintergrundwissen nun beurteilen?
- Ist Verantwortung ethisch gerechtfertigt?
- Welche Handlungsoption wird den größten Nutzen erbringen und den geringsten Schaden anrichten? (Utilitaristischer Ansatz)
- Welche Option respektiert am besten die Rechte aller betroffenen Personen und der Gesellschaft? (Orientierung an Recht und Gesetz)
- Welche Option lässt Sie als die Art von Person handeln, die Sie sein möchten? (Fokus auf Tugend)
c) Eine Entscheidung fällen und testen
- Wenn man all diese Ansätze einbezieht, welche Option wird Ihrer Meinung nach Lauras Situation am ehesten gerecht?
- Wenn Sie Personen, die Sie sehr respektieren, von Ihrer Entscheidung erzählen würden, was würden diese dazu sagen?
d) Handeln und über die Folgen kritisch nachdenken
- Welche Folgen hätte Ihre Entscheidung und was haben Sie aus dieser spezifischen Situation gelernt?
- Welche Situationen der Verantwortung haben Sie selbst schon erlebt, wie haben Sie in den Situationen reagiert und wie würden Sie mit dem Wissen von heute versuchen zu reagieren?
Medienunterstützung für den Unterricht
Umfrage: Verantwortung und Pflichten von der Landeszentrale für politische Bildung Nordrhein-Westfalen: Für wen und was trägt man Verantwortung? Gibt es Pflichten gegenüber dem Staat? Welche Pflichten hat man in einer Demokratie?
Umfrage: Verantwortung von der Landeszentrale für politische Bildung Nordrhein-Westfalen: Männer und Frauen verschiedener Berufe und unterschiedlichen Alters schildern, was für sie Verantwortung bedeutet und welche Rolle sie im gesellschaftlichen Miteinander spielt.
Umfrage: Verantwortung in der digitalen Welt von Teachtoday: Die digitale Welt hat uns ein Mehr an Freiheit ermöglicht, aber auch ein Stück weit mehr Verantwortung. Was bedeutet Verantwortung in der digitalen Welt?
Hans Jonas: Verantwortung neu denken
Hans Werner Sinn: Gesinnungsethik vs. Verantwortungsethik am Beispiel der Seenotrettung
BASF-Vorstandsmitglied Frau Saori Dubourg: Haltung und Verantwortung von Unternehmen
Quellen
ADAC (2021): Mit dem Auto unterwegs in Portugal, unter: https://www.adac.de/reise-freizeit/reiseplanung/reiseziele/portugal/uebersicht/mit-dem-auto/ (abgerufen am 17.03.2021)
Endreß, M. (2020): Ethik (Gesinnungs- und Verantwortungsethik). S. 67-69 in Müller, H.-P., Sigmund S. (Hrsg.): Max Weber-Handbuch (2020), unter: https://doi.org/10.1007/978-3-476-05142-4_11 (abgerufen am 13.03.2021)
Fladerer, M. P. (2016): Gerechtigkeit. S. 79-93 in Frey, D. (Hrsg.): Psychologie der Werte (2016)
Kaschner, T. (2016): Verantwortung. S. 237-245 in Frey, D. (Hrsg.): Psychologie der Werte (2016)
Rechtsanwalt Rathenau (2021): Unterschiede zwischen dem deutschen und dem portugiesischen Recht, unter: https://entdecken-sie-algarve.com/recht/rechtsanwalt-rathenau/unterschiede-zwischen-dem-deutschen-und-dem-portugiesischen-recht (abgerufen am 17.03.2021)
Worms, N. (2009): Gesinnungsethik und Verantwortungsethik, in: GRIN Verlag München (2009), unter: https://www.grin.com/document/146858 (abgerufen am 13.03.2021)
Fußnoten
-
Kaschner, T. (2016): Verantwortung. S. 238 in Frey, D. (Hrsg.): Psychologie der Werte (2016) ↩
-
Worms, N. (2009): Gesinnungsethik und Verantwortungsethik, in: GRIN Verlag München (2009), unter: https://www.grin.com/document/146858 (abgerufen am 13.03.2021) ↩
-
Endreß, M. (2020): Ethik (Gesinnungs- und Verantwortungsethik). S. 67-69 in Müller, H.-P., Sigmund S. (Hrsg.): Max Weber-Handbuch (2020), unter: https://doi.org/10.1007/978-3-476-05142-4_11 (abgerufen am 13.03.2021) ↩
-
Worms, N. (2009): Gesinnungsethik und Verantwortungsethik, in: GRIN Verlag München (2009), unter: 1: https://www.grin.com/document/146858 (abgerufen am 13.03.2021) ↩
-
Kaschner, T. (2016): Verantwortung. S. 238 in Frey, D. (Hrsg.): Psychologie der Werte (2016) ↩
-
Kaschner, T. (2016): Verantwortung. S. 238 in Frey, D. (Hrsg.): Psychologie der Werte (2016) ↩
-
Fladerer, M. P. (2016): Gerechtigkeit. S. 86 in Frey, D. (Hrsg.): Psychologie der Werte (2016) ↩
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Kaschner, T. (2016): Verantwortung. S. 239 in Frey, D. (Hrsg.): Psychologie der Werte (2016) ↩
-
Kaschner, T. (2016): Verantwortung. S. 238 in Frey, D. (Hrsg.): Psychologie der Werte (2016) ↩
-
Kaschner, T. (2016): Verantwortung. S. 240 in Frey, D. (Hrsg.): Psychologie der Werte (2016) ↩
-
Kaschner, T. (2016): Verantwortung. S. 241 in Frey, D. (Hrsg.): Psychologie der Werte (2016) ↩
-
ADAC (2021): Mit dem Auto unterwegs in Portugal, unter: https://www.adac.de/reise-freizeit/reiseplanung/reiseziele/portugal/uebersicht/mit-dem-auto/ (abgerufen am 17.03.2021) ↩
-
Rechtsanwalt Rathenau (2021): Unterschiede zwischen dem deutschen und dem portugiesischen Recht, unter: https://entdecken-sie-algarve.com/recht/rechtsanwalt-rathenau/unterschiede-zwischen-dem-deutschen-und-dem-portugiesischen-recht (abgerufen am 17.03.2021) ↩
-
Kaschner, T. (2016): Verantwortung. S. 238 in Frey, D. (Hrsg.): Psychologie der Werte (2016) ↩
-
Kaschner, T. (2016): Verantwortung. S. 23 ↩